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Lebens- und Arbeitswelt 2025 – wie Praxen sich künftig ausrichten müssen

Die Lebenswelten von Kunden im Jahr 2025 werden durch viele Facetten geprägt. So steigt die durchschnittliche Lebenserwartung der Deutschen über 85 Jahre hinaus. Und somit beginnt für viele mit 60+ statt der Rente noch einmal ein ganz neuer Lebensabschnitt. Außerdem durchdringt die Digitalisierung unsere Lebensbereiche immer tiefer. Doch was bedeutet das für Zahnarztpraxen? Auf welche Patienten müssen sie sich einstellen? Und welche Technologien sind künftig unverzichtbar?

Neue Standards, neue Patientenanforderungen, neue Wettbewerber – Zahnmediziner werden sich künftig im neuen Wettbewerb als Spezialisten für ihren Bereich behaupten müssen. Foto: Shutterstock.com/Yuganov Konstantin

Neue Standards, neue Patientenanforderungen, neue Wettbewerber – Zahnmediziner werden sich künftig im neuen Wettbewerb als Spezialisten für ihren Bereich behaupten müssen. Foto: Shutterstock.com/Yuganov Konstantin

Dr. Jörg Wallner ist „Director Innovation & Change“ bei der innovativen und größten Denkfabrik im deutschsprachigen Raum, dem von Trendforscher Sven Gabor Janszky gegründeten 2b AHEAD ThinkTank. Die Digitalisierung spielt für den studierten Politologen, Soziologen und Publizisten derzeit eine entscheidende Rolle. „Die deutsche Wirtschaft droht die Digitalisierung zu verschlafen“, sagt Wallner. Als Impulsgeber zeigt er Unternehmen, wie sie mit Digitalisierung umgehen können, als Berater begleitet er sie bei der Umsetzung entsprechender Konzepte und bei der Befähigung ihrer Mitarbeiter.

Und als Vordenker skizziert er im Interview mit Chance-Praxis-Redakteurin Monia Geitz, auf welche Veränderungen sich Zahnärzte künftig einstellen sollten.

Monia Geitz: Wir werden immer älter und im Alter 60+ auch immer aktiver. Silver-Ager werden bereits jetzt als einkommensstarke Gruppe angesehen. Ist das die Klientel der Zukunft?
Dr. Jörg Wallner:
Man kann zumindest sagen, dass die Zielgruppe der Silver-Ager den Praxen deutlich länger erhalten bleiben wird. Wenn viele Menschen mit 50 bis 60 Jahren nochmals eine Art Neustart mit neuem Job, neuem Heim und auch einer neuen Beziehung wagen werden, verschiebt sich die Rentenphase mit geringerer Aktivität deutlich nach hinten. Die Bedeutung einer festen Kundenbindung wird steigen, denn sobald man sie für sich gewonnen hat, bleiben die Patienten bisweilen über Jahrzehnte hinweg erhalten. Da diese Zielgruppe gleichzeitig tatsächlich einkommensstark ist und die Produkte der Zahnmedizin insbesondere auch im Bereich der Prothetik stärker nachfragen wird als jüngere Generationen, wird ihre Bedeutung weiter zunehmen und werden sich die Produkte stärker an ihr orientieren.

MG: Je aktiver wir im Alter sind, desto mehr zieht es uns in die Städte, mit guter Infrastruktur und Kultur. Doch welche Konsequenzen hat das für Zahnmediziner in Bezug auf die Standortwahl? Bereits jetzt herrscht ja schon ein Ärztemangel auf dem Land. Und 2025?
JW:
Auch Zahnärzte werden weiterhin dem allgemeinen Trend zur Urbanisierung folgen: Praxen in ländlichen Regionen finden keine Nachfolge, während in den Städten die Dichte an Zahnmedizinern zunimmt. Der entstehenden Versorgungsproblematik wird bereits heute versucht, durch die Bildung kommunaler medizinischer Versorgungszentren entgegenzuwirken und gezielt Ärzte an ländliche Regionen zu binden. Dies muss vor allem zukünftig über unterschiedliche Formen der finanziellen Förderung geschehen, um hier gegenzusteuern. In den Städten sehen wir steigende Standortkosten und höheren Wettbewerb. Dies könnte zukünftig die Standortwahl wieder stärker in Richtung der ländlichen Gegenden beeinflussen. Auch Fortschritte in der Telemedizin lassen die Relevanz von räumlicher Distanz schrumpfen.

So stellen sich Zahnmediziner zukunftssicher auf

  • Informieren Sie sich umfassend über die für Sie relevanten Veränderungen nicht nur auf technologischem Gebiet, sondern vor allem auch beim Kundenverhalten
  • Begreifen Sie die Komplexität und das Veränderungstempo des laufenden digitalen Wandels als Chance
  • Verstehen Sie sich als Unternehmer in einem datengetriebenen Geschäft; Strategie- und Geschäftsmodellentwicklung sollten Ihnen so vertraut sein wie Behandlungsmethoden
  • Setzen Sie auf Spezialisierung und Differenzierung durch Kommunikation, Service und Leistungen
  • Etablieren Sie neue Geschäftsmodelle und eine neue Qualität von Kundenbeziehung

MG: Stichwort Fachkräftemangel: Personal – insbesondere gutes – ist bereits jetzt knapp. Die Anforderungen an medizinisches Fachpersonal werden aber durch die Digitalisierung immer höher. Wie müssen sich Zahnärzte als Arbeitgeber künftig präsentieren, um überhaupt ein leistungsstarkes Team zu bekommen?
JW:
Bieten Sie ein umfassendes Netzwerk für angehende Zahnärztinnen und Zahnärzte. Seien Sie für diese Ansprechpartner und Unterstützer. Am besten für alle und über ihr ganzes Studium. Informieren Sie über Aus- und Weiterbildungswege und beraten Sie in den wichtigen Entscheidungssituationen. Veranstalten Sie Workshops und zeigen Sie persönliche Stärken und Schwächen auf. Bieten Sie Stipendien beziehungsweise Zertifikate an oder erschließen Sie andere Wege, um eine Identifikation zu erzeugen, aufrechtzuerhalten und den Nachwuchs für Ihre Standorte zu gewinnen. Tun Sie das alles kostenlos, denn die Belohnung sind ausgebildete, höchstqualifizierte Fachkräfte. Auch ausländisches Fachpersonal sollte gezielt angeworben und deren Integration vereinfacht werden, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

MG: Wie wird sich das Gut „Gesundheit“ künftig weiterentwickeln?
JW:
Die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit werden verschwimmen, Menschen werden selbstständiger bestimmen können, welches Verhältnis dieser Zustände sie sich wünschen und leisten können – außerdem werden sie dieses auch eigenständig so gut wie überall messen können. Bei einem stetig steigenden Altersdurchschnitt werden die Menschen die eigene Gesundheit als größten und machbaren Luxus erleben. Durch „Body-Enhancement“ aller Art wird Gesundheit mehr und mehr zum kaufbaren Konsumgut: Medizinische Nahrung sorgt dafür, dass wir weniger krank werden. Brainfood verspricht, auch unsere Hirnfunktionen bei Bedarf zu optimieren. Und der beginnende Einsatz von menschlichen Ersatzteil-Organen führt im Luxussegment zu weiterer Lebensverlängerung.

MG: Welche Rolle werden Gesundheits-Apps, Wearables, Ernährung und Nahrungsergänzungsmittel künftig innehaben?
JW:
Durch erstere werden sich neue Möglichkeiten für die eben genannte Vermessung der eigenen Gesundheit ergeben. Die Nutzung dieser erhobenen Daten von Smartphone Apps, Sensoren aus Smart Homes und Wearables eröffnen neuartige Chancen, die Behandlungen an die Voraussetzungen jedes Patienten gezielt anzupassen. Die Leistungen werden individueller und auch die Ernährung kann gezielter angepasst werden – dieser Forderung nach Individualität und Adaptivität wird die Nahrungsmittelindustrie nachkommen, indem Nahrungsergänzungsmittel und „Functional Food“ für jeden Menschen optimiert angeboten werden. Die Grenzen zwischen Nahrungsmittel- und Pharmaindustrie werden dabei zunehmend verschmelzen.

MG: Was passiert in der Arzt-Patientenkommunikation (oder -beziehung), wenn der Patient mit fragwürdigen Therapie-Ergebnissen aus Apps, Web oder Wearables in die Sprechstunde kommt? Oder noch weiter gedacht beim Smart Home – das clevere Zuhause, das Gesundheitsdaten aufzeichnet. Wie integriere ich das in den Praxisalltag?
JW:
Ärzte müssen sich darauf einstellen, dass wir im Jahr 2025 in einer digitalisierten Gesellschaft leben. Menschen werden ihren Smartphones noch viel stärker vertrauen als heute und werden faktisch zu Prosumenten. Die Zahnärzte, Medizindienstleister und Gesundheitsanbieter, die die Fähigkeiten der digitalen Systeme und Geräte für sich selbst als elektronische Assistenten benutzen und den Kunden zugleich Leistungen anbieten, die Geräte nicht erbringen können, werden einen zukunftsentscheidenden Vorteil gewinnen. Besonders der persönliche Kontakt muss deshalb zukünftig stärker im Mittelpunkt stehen, vom Kunden ermittelte Daten erklärt und die Nachfrage des Kunden nach Information nicht belächelt, sondern ernstgenommen und bedient werden.

MG: Smartphones als intelligente Assistenten, Schnittstellen – WLAN, DataSpace, Schnittstellen zu Endgeräten der Verbraucher – was müssen Praxen künftig anbieten?
JW:
Der Druck der technologischen Innovationen und die Geschwindigkeit, mit der wir ihre Neuerungen als selbstverständlich ansehen, wird sich weiter erhöhen. WLAN ist sicher eher ein Komfortmerkmal für die Kunden als echte Notwendigkeit, aber bereits bei der Frage nach aktiver Kommunikation und gezieltem Marketing dort, wo die Kunden sich künftig informieren, sollten Zahnärzte ihre bisherigen Grenzen überdenken. Sie müssen bereit sein, sich auf neue Verfahren und Methoden einzulassen. Originär medizinische Aufgaben werden zu einem Gutteil durch die Assistenzsysteme gleistet. Bei gleichzeitig schwindenden finanziellen Möglichkeiten werden häufiger große Investitionen nötig sein.

MG: Und: Wie schaffe ich es als Zahnarzt, in der Lebens- und Arbeitswelt meiner Gesundheitskunden präsent zu sein? (Eigene App, Zahn-Check im Kaufhaus …?)
JW:
Unsere Empfehlung lautet: Positionieren sie sich als Gesundheitscoach für ihre Kunden mit Inhalten, die tatsächlich einen Mehrwert für ihre Kunden bringen. Klassische Themen wie Prävention und Behandlung sollten sie ergänzen um Vorschläge und Empfehlungen rund um das Thema „Körper-Optimierung“ – und dabei gerade in den städtischen Ballungsräumen mit ihrer angespannten Wettbewerbssituation zusätzliche Kommunikationswege anbieten (also zum Beispiel auch Messenger-Dienste, Apps, soziale Netzwerke) und gezielte Marketingkampagnen einsetzen.

MG: Der Patient ist immer informierter und aufgeklärter – wie wird das die Arzt-Patientenbeziehung künftig beeinflussen?
JW:
Sehr viele Patienten werden sich in Zukunft im Vorhinein online über Behandlungen und Standards informieren können. Mediziner müssen deshalb ebenso über den aktuellen Forschungsstand informiert und qualifiziert sein, um den Ansprüchen ihrer Kunden nach Fachwissen gerecht werden zu können. Die Beziehung wird zukünftig stärker von Dialogen und wechselseitigen Vorschlägen geprägt sein, Entscheidungen werden gemeinsam gefällt – der Kunde wird zum Prosument.

MG: Wird sich dadurch der Stellenwert der Prävention und der Gesundheitsvorsorge auch verändern?
JW:
Teil der personalisierten Medizin ist eine individuell angepasste Gesundheitsvorsorge. Datengestützte Risikoeinschätzungen und Handlungsempfehlungen, die auf Systemen künstlicher Intelligenz basieren, werden die Möglichkeiten einer Gesundheitsvorsorge quantifizierbar und damit für viele Menschen leichter greifbar machen. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit wandert damit ein weiteres Stück vom „Schicksal“ zum Menschen selber.

MG: Neue Klientel für Zahnmediziner: Es kommen nicht nur Patienten auf sie zu, die sich eine Linderung ihrer Beschwerden erhoffen, sondern immer mehr „Health-Seeker“, die die ihre persönlichen Gesundheitsdaten zur Optimierung ihres Wohlbefindens nutzen wollen. Wie verändert das das Bild des Arztes?
JW:
Ärzte sind schon heute und werden in Zukunft noch deutlicher nur ein Teil im gesamten Gesundheitsnetz ihrer Patienten sein. Diese Patienten werden immer deutlicher zu „Kunden“, Arztbesuche so normal wie der Einkauf von gesunden Lebensmitteln oder der Weg ins Fitnessstudio, um die eigene Gesundheit zu optimieren. Die von uns prognostizierte „Devaluation des Expertentums“ wird immer häufiger sichtbar, wenn die Meinung des Zahnarztes nur die zweite oder dritte in einem längeren Informationsprozess ist. Am Ende des Prozesses stehen Daten, die der Patient eigenständig mithilfe von digitalen Assistenten auswertet und Präventionsmaßnahmen trifft, wodurch tatsächliche Eingriffe deutlich seltener werden.

MG: Stichwort personalisierte Medizin: Die Datenmenge steigt in Qualität und Quantität, Expertenwissen und Analytik beschränken sich nicht mehr allein auf Heilberufe, medizinische Technologien werden immer leistungsfähiger und nationale sowie internationale Unternehmen dringen in den Gesundheitssektor ein und verändern die Patienten- und Kundenerwartungen (Studie „Personalisierte Medizin der Zukunft“; 2015 ThinkTank, Michael Carl). Wie stellen sich Zahnmediziner mit ihren Praxen zukunftssicher in Bezug auf die neuen Wettbewerber auf?

JW: Zunächst sind sie gut beraten, sich die explodierende Komplexität ihres Berufs vor Augen zu führen. Selbstbild und Fremdbild verschieben sich durch die Digitalisierung. Technologische und unternehmerische Anforderungen steigen. Daten und durchgängige Workflows werden noch wichtiger für das eigene Geschäft. Und sie werden Entscheidungen in immer kürzeren Zyklen und ohne abschließende Sicherheit über Rahmenbedingungen und weitere Entwicklungen treffen müssen. Eine der Antworten hierauf heißt Expertise aufbauen, gegebenenfalls auch in Form eines Praxismanagers oder Geschäftsführers einkaufen.
Eine weitere Antwort, die wir in vielen Branchen heute schon sehen, liegt in einer starken Kundenorientierung – reden Sie mit Ihren Kunden über deren Wünsche und Bedürfnisse und nicht nur über Ihre Leistungen! – und einer Umsetzung von Veränderungsprozessen in agilen, risikominimierenden Logiken.

MG: Technologie und Workflow werden immer ausgefeilter, 3-D-Drucker sind auf dem Vormarsch, offene Chairside-Systeme ebenfalls, wie die Internationale Dental-Schau im März in Köln gerade gezeigt hat. Worauf müssen sich Zahnmediziner und Praxisgründer einstellen?
JW:
Mit dem Aufkommen dieser Technologien werden gleichzeitig neue Standards hinsichtlich Convenience und Geschwindigkeit gesetzt. Wenn Restaurationen bereits während der Sitzung vor Ort hergestellt werden können, werden sich die Ansprüche auch in diese Richtung verschieben: Niemand wird mehr wochenlang auf seinen Zahnersatz warten, wenn es diese Möglichkeit gibt. Gerade kleine Praxen sollten deshalb nach Möglichkeiten suchen diesen Anforderungen gerecht zu werden, ansonsten ist eine Abwanderung der Patienten zu größeren Praxen, die diese Technologie anbieten können, nicht auszuschließen.

MG: Unsere Vorstellung von Krankheit und Gesundheit wandelt sich. Mit den wachsenden Möglichkeiten der Selbstmessung und Selbstoptimierung verschwimmen die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit. Nicht-medizinische Unternehmen wie Telekommunikationsanbieter, Softwareunternehmen oder die Nahrungsmittelbranche drängen in den Gesundheitsmarkt und werden zum Wettbewerber. Was bedeutet dies für die Zahnärzte?
JW:
Zahnmediziner werden sich diesem neuen Wettbewerb als Spezialisten für ihren Bereich behaupten müssen. Kunden erwarten zunehmend ein „Gesundheitsnetzwerk“, das auf ihre spezifischen Bedürfnisse angepasst ist und gemeinsam das bestmögliche Ergebnis für sie erbringt. Dazu gehören Ärzte genauso wie Apotheker, Lebensmittelhersteller oder die Softwareunternehmen, die ihre persönlichen Assistenten programmieren.
In Zukunft werden Übergänge fließend werden, Marktbarrieren wegbrechen und große branchenferne Unternehmen deshalb in den Markt drängen, aber gleichzeitig wird auch die Bedeutung von Kooperationen zunehmen. Kundendaten werden untereinander ausgetauscht (im Wissen der Patienten) und von den jeweiligen Spezialisten genutzt.

MG: Vielen Dank für das Interview!


Zu unserem Autor:

Jörg Wallner (Foto: Wallner)

Dr. Jörg Wallner (Foto: Wallner)

Dr. Jörg Wallner ist „Director Innovation & Change“ bei der Denkfabrik 2b AHEAD ThinkTank. Nach dem Studium verbrachte er sechs Jahre in der Politikberatung. Danach arbeitete er zehn Jahre in einer Hamburger Unternehmensberatung, implementierte und leitete das New Business Development bei einer der weltweit größten Druckereien und gründete sein eigenes Start-up im Medienbereich, bevor er zum „2b AHEAD ThinkTank“ kam. Dr. Jörg Wallner lebt in Hamburg, ist verheiratet und hat drei Kinder. Freizeit nutzt er zum Motorrad-, Offroad- und Fahrradfahren, vorzugsweise im Hamburger Umland oder an den Küsten von Nord- und Ostsee.