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Assistent oder Kindergärtner? – Die Kolumne

proDente e.V.:Johann Peter Kierzkowski [1]

Kann schon mal anstrengend sein: die Assistentenzeit. Foto: proDente e.V./Johann Peter Kierzkowski

Kurzes Repetitorium: Assistent Kieferle schlägt sich tapfer durch den Uniklinikalltag und die Studentenausbildung. Zuletzt versuchte er die Studentenschaft zur aktiven Teilnahme an seiner Vorlesung zu bewegen – Resultat: ein Rüffel von Kursleiter Dr. Müller-Wurzel. Jetzt hält sich Kieferle brav zurück und trägt seine mittlerweile neun Vorlesungen stoisch und ohne größere Resonanz vonseiten der Studenten vor.

Bei seinen vier Famulaturstudenten will er aber nicht so leicht aufgeben. „Denn vor meinen Patienten muss ich die Würde als Arzt wahren.“ Deshalb hat er die vier auch gebeten, sämtliche Fragen oder „Bloßstell-Versuche“ nicht vor den Patienten zu äußern, sondern zwischen den Behandlungen. Zur Verwunderung Kieferles funktioniert das auch, weshalb er den Famulaturtagen schon etwas entspannter entgegensieht. Allerdings lässt die Aufmerksamkeit der Studenten, die bislang ganz auf die „Fehleranalyse“ in Kieferles Behandlungen gerichtet war, nun völlig zu wünschen übrig. Auch glänzen seine vier Schützlinge jetzt durch permanentes Zu-spät-Kommen und sind sich dabei für keine Ausrede zu schade – egal wie fadenscheinig sie auch ist.

„Tschuldigung, wir hatten noch Patienten.“ „Aber sie sind fast 45 Minuten zu spät. Und alle ihre Kollegen sind schon seit Behandlungsbeginn am Stuhl.“ „Ja, aber wir mussten länger. Fragen Sie doch die Kursleitung der Studentenbehandlung, wenn Sie uns nicht glauben.“ Kieferle versucht den Unterton zu überhören und denkt sich wie schon so oft, dass Toleranz gefragt ist und es eh keinen Sinn macht sich aufzuregen.

Im Laufe des Nachmittags: „Herr Kieferle, ich müsste wohl kurz mal rüber ins Studentenlabor. Ich muss noch eine Prothese reparieren …“ „Sie haben aber jetzt Famulaturzeit bei mir.“ „Ja, aber die Prothese muss bis morgen Nachmittag fertig sein. Geht auch ganz schnell …“ „Das glaube ich Ihnen ja, aber trotzdem ist jetzt Famulatur.“ „Ja, aber beim nächsten Patienten setzen Sie doch eh nur eine Teilkrone ein. Das hab’ ich schon mal gesehen. Das ist ja ganz easy – einmal zuschauen reicht.“ Kieferle kann es nicht glauben. „Sie haben jetzt Kurs bei mir und bleiben bitte auch!“

Am Ende des Behandlungstags zeichnet Kieferle die Anwesenheit mit den Worten ab: „Wenn Sie das nächste Mal wieder so viel zu spät kommen, ziehe ich Ihnen die Zeit von Ihren Stunden ab.“ Die Famulanten sagen nichts, lächeln freundlich und verschwinden.

Kieferle bleibt frustriert zurück, ärgert sich über die Dreistigkeit der Studenten, aber am meisten darüber, wie spießig er selbst schon nach so kurzer Zeit auf der anderen Seite des Katheders geworden ist. „… ziehe ich Ihnen die Zeit von Ihren Stunden ab … Mannomann, noch vor einem Jahr hätte ich über so viel Kleinkariertheit den Kopf geschüttelt.“

Außerdem kommt ihm etwas betreten in den Sinn, dass er als Student mehrfach in einer ähnlichen Situation war wie sein Famulant: Er musste dringend eine Arbeit fertigstellen und wusste vor lauter Famulaturen und Vorlesungen nicht, wie er das schaffen sollte. „Und ganz ehrlich“, denkt er sich, „habe ich dann auch ein paar Notlügen benutzt, um Kurse zu schwänzen und unter totalem Zeitdruck die leidige Prothese fertigzustellen.“

Was soll Kieferle in seiner Rolle als Ausbildungsassistent anderes tun, als die Studenten zur Anwesenheit bei seiner Behandlung zu verpflichten? Er kann sie ja nicht einfach ins Labor gehen lassen, um ihre Arbeiten fertig zu machen und sagen: „Ich kenne das – mir selber ging es vor einem Jahr nicht anders. Die Famulaturstunden bei mir unterschreibe ich Ihnen so – muss ja keiner wissen.“ Denn so etwas spricht sich herum und kommt immer raus.

Doch was bleibt Kieferle anderes übrig? Bringt ihn Tiefenentspannung weiter oder das Gewährenlassen der Studenten mitsamt ihrer Tricksereien?

In den kommenden Wochen hadert er immer wieder mit seinem Schicksal und sitzt auch immer wieder zwischen den Stühlen. „So geht das nicht weiter. Ich will nicht zum verbitterten und unentspannten Nörgler werden.“ Kieferle fasst einen Entschluss: Er wird sich auch in Zukunft nicht für dumm verkaufen lassen und den Studenten klare Ansagen machen, was ihre Pflichten sind und wo die Grenzen liegen. Aber er will nicht mehr so voreingenommen sein und hinter jeder Aktion gleich einen Affront, Berechnung oder Getrickse vermuten. Ihm geht es darum, entspannt und offen aufzutreten und er hofft, dass die Studenten langfristig einen fairen und offenen Umgang würdigen werden – vielleicht auch wegen der Perspektive, in absehbarer Zeit selber Assistent zu sein.
Dr. A. Watson