Schon Zahnärzte unter 30 leiden an Rückenbeschwerden

Die unphysiologische und oft extrem ungünstige körperliche Arbeitshaltung führt frühzeitig zu orthopädischen Problemen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit. Foto: Initiative ProDente e.V.

Die unphysiologische und oft extrem ungünstige körperliche Arbeitshaltung führt frühzeitig zu orthopädischen Problemen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit. Foto: Initiative ProDente e.V.

Viele Fachkollegen haben schon nach wenigen Berufsjahren chronische Beschwerden und Schädigungen. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen im medizinischen Bereich halten die Zahnärzte einen traurigen Rekord, was vorzeitigen Ruhestand wegen Arbeitsunfähigkeit, Berufswechsel aus gesundheitlichen Gründen und auch geringere Lebenserwartung anbetrifft. Auffallend dabei ist, dass sich Beschwerden nicht auf Zahnärzte mit jahrzehntelanger Berufsausübung beschränken, sondern bereits viele Kollegen unter 30 Jahren darunter leiden.

Warum ist das so?
Die Ursachen sind meist in den charakteristischen Arbeitsbedingungen zu finden:
• Die unphysiologische und oft extrem ungünstige körperliche Arbeitshaltung führt frühzeitig zu orthopädischen Problemen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit.
• Extreme Bewegungsarmut sowie überwiegend statische Muskelarbeit und hohe psychische Dauerbelastung sind in hohem Maß Risikofaktoren für degenerative Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten.

Daten und Fakten rund um den zahnärztlichen Arbeitsplatz
Folgende „typische“ haltungsbedingte Beschwerden werden immer wieder genannt:
• lokale Hals-Nacken-Beschwerden nach längeren Sitzungen, oft schon nach ein bis zwei Stunden Arbeit
• Schulter-Arm-Syndrom, also ausstrahlende Schmerzen in Arme und Hände beziehungsweise Kribbeln und Taubheit in Armen und Händen
• Kopfschmerzen, meist einseitig, vor allem spätnachmittags und abends, oft in Verbindung mit Augenschmerzen
• Stechen im Brustbereich und Atembeschwerden, vor allem nach langen Sitzungen
• lokale Schmerzen im LWS-Bereich, auch nachts und am frühen Morgen
• ischiatische Beschwerden mit Taubheitsgefühlen in einem Bein/beiden Beinen, vor allem bei längeren Behandlungen
• Hüftbeschwerden vor allem im rechten Bein (bei Rechtshändern)
(Quelle: Erhebungen des Autors bei Spezialkursen für Zahnärzte und Assistenzpersonal seit 1995)

Ursachen für diese Beschwerden sind meist extrem belastende Haltungen, also zum Beispiel eine torquierte Oberkörperhaltung, abgespreizte Arme, schiefgelegter oder vorn übergeneigter Kopf, einseitige Abspreizung eines Beines und Dauerbelastungen durch zum Beispiel langwierige Behandlungen oder auch „starres“ Verharren in einer bestimmten sitzenden Position (zum Beispiel wegen Zeitminimierung). Dies deckt sich weitestgehend mit den typischen vertebreganen Schmerzsyndromen bei Zahnärzten, die Kastenbauer schon vor mehr als 20 Jahren (1987, 92) beschrieb.

Auslöser Arbeitshaltung
Zahnärzte sitzen während der Arbeit fast ausnahmslos und nehmen dabei in der Regel eine überwiegend statische, häufig unphysiologische und torquierte Körperhaltung ein – und das stundenlang. Diese statische Belastung (= Mangel an Bewegung und Haltungswechsel) führt zu unzureichender Durchblutung und damit Mangelernährung der Haltemuskulatur. Schon minimale Anstrengungen reduzieren die Durchblutung extrem: Bei Muskelanspannung mit 15 Prozent der Maximalkraft kommt es zu Durchblutungseinschränkungen, bei 50 Prozent zu einem Durchblutungsstopp (nach Weineck, 1992, 12). Über zunehmende aerobe Energiebereitstellung, Anhäufung sauerer Stoffwechselprodukte, Lähmung und Verquellung der Muskelzellmembran und Dauerkontraktion der Muskelfasern kommt es zu tastbaren Verhärtungen (Myogelosen) mit Dauerschmerzsymptomatik.

Eine weitere Folge ist die steigende zentrale Ermüdung mit abnehmender Konzentrationsfähigkeit. Aber nicht nur die Muskulatur verändert sich durch die Fehlbelastung, auch Knorpel, Bänder und die Bandscheiben. Durch statische Dauerbelastungen nimmt die Bandscheibenhöhe ab, die Spannung der Längsbänder lässt nach, das Bewegungssegment lockert sich. Die dadurch bewirkte Stellungsänderung der Wirbelkörper ist verknüpft mit einer Einengung der Zwischenwirbellöcher mit der Folge der Bedrängung und Reizung der Nervenwurzeln, die dort austreten (= Ischialgie, Protrusion, Prolaps). Die durch die Degeneration nicht mehr anpassungsfähige Bandscheibe reagiert viel empfindlicher auf berufliche Mehr- und Fehlbelastungen, so dass nach einigen Berufsjahrzehnten (ca. ab dem 50. Lebensjahr) die Schmerzsyndrome extrem zunehmen.

Auslöser Bewegungsmangel
Behandler und Assistenzen haben einen durch Bewegungsarmut und Haltungsmonotonie geprägten Beruf. Sie bewegen sich sehr wenig, da sie fast nur sitzen und der Arbeitsgegenstand „Mundhöhle“ klein und meist an derselben Stelle positioniert ist. Da der menschliche Organismus auf Bewegung angelegt ist, muss sich jede chronische Unterforderung in Form von Bewegungsmangelerkrankungen niederschlagen. Allein in den letzten hundert Jahren veränderten sich das Bewegungsverhalten und der Faktor „körperliche Arbeit“ rapide.

Wurde damals die für die Arbeit benötigte Energie noch zu 90 Prozent durch Muskelkraft geleistet, so beträgt dieser Anteil heutzutage nur noch 1 Prozent (nach Mellerowicz/Franz, 1981, 21). Eine solche Entwicklung kann nicht ohne Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen bleiben, und so ist quer durch die Bevölkerung ein entsprechender Anstieg von Bewegungsmangel-Krankheiten zu verzeichnen. Beschäftigte in Zahnarztpraxen sind dabei überrepräsentiert.

Auslöser Umfeld
Zusätzlich verstärkend wirkt die (Arbeits-)Umgebung, wenn zum Beispiel Geräte und Instrumente nicht ergonomisch angepasst, nur schlechte Absaugeinrichtungen vorhanden sind, die Beleuchtung unvorteilhaft ist und auch der Lärm gesundheitsschädigend wirkt. Die moderne Technologie mit drahtlosen Geräten und der Zunahme entsprechender Geräte sowie die Durchdringung der gesamten Arbeitswelt mit Computertechnik sind weitere große und immens wachsende Belastungsfaktoren. Elektromagnetische Strahlung und zusätzliche einseitige Arbeitspositionen sind hier die Hauptgründe.

Auslöser zusätzliche Risikofaktoren
Zu diesen Hauptauslösern von chronischen Beschwerden kommt noch eine Vielzahl weiterer Risikofaktoren, die diese Beschwerden begünstigen und verstärken. Risikofaktoren sind spezielle Verhaltensweisen, Umwelteinflüsse und Körpermerkmale, die auf den menschlichen Organismus einwirken und diesen schädigen. Je mehr solcher Faktoren zusammentreffen, desto früher und schwerer treten degenerative Herz-Kreislauf-Erkrankungen über arteriosklerotische Veränderungen auf.

Dabei addieren sich die Risikofaktoren in ihrer Wirkung nicht nur, sie potenzieren sich; zwei Risikofaktoren bedeuten also vierfaches Infarktrisiko (nach Weineck, 104). Die häufigsten Risikofaktoren neben Bewegungsmangel und falscher Haltung sind Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Nikotin, Übergewicht, zusätzlicher (negativer) psychosozialer Stress, Diabetes mellitus, Alkohol.

Bei vielen Freiberuflern ist der Bildschirmarbeitsplatz ebenfalls Standard – doch nur, wer ergonomisch arbeitet, hat dabei auch gut lachen. Foto: Initiative ProDente e.V.

Bei vielen Freiberuflern ist der Bildschirmarbeitsplatz ebenfalls Standard – doch nur, wer ergonomisch arbeitet, hat dabei auch gut lachen. Foto: Initiative ProDente e.V.

Daten und Fakten zur Bildschirmarbeit
In produzierenden Unternehmen sind 60 bis 80 Prozent Büroarbeitsplätze, in Handwerksbetrieben und bei vielen Freiberuflern ist der Bildschirmarbeitsplatz ebenfalls Standard. Rund 18 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland sind Bildschirmarbeitsplätze.

• 80 Prozent der Bürokosten sind Personalkosten
• 14 bis 15 Prozent entfallen auf Gebäude- und Flächenkosten
• 4 bis 5 Prozent der Kosten werden für Sachmittel inklusive Bürotechnik aufgewendet
• 1 bis 2 Prozent der Gesamtkosten sind Einrichtungskosten
• Nahezu jede vierte Krankschreibung wird durch Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems verursacht (Quelle: Jährliche Berichte der gesetzlichen Krankenkassen)
• 34,3 Prozent der Beschäftigten in Verwaltungsberufen leiden zumindest gelegentlich unter Schmerzen im unteren Rückenbereich (Kreuzschmerzen).
• 47,8 Prozent leiden unter Schmerzen im Nacken
• 33,3 Prozent leiden unter Kopfschmerzen
• 28,3 Prozent leiden unter Brennen, Schmerzen oder Rötungen der Augen
(Quelle: Erwerbstätigenbefragung 2006 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und des Bundesinstituts für Berufsbildung)
Manfred Just, Forchheim

aus: Manfred Just: Die fünf Säulen der Ergonomie (zfv 2011)

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