Nicht immer sind die Zähne das Problem …

© Initiative ProDente e.V.

© Initiative ProDente e.V.

Montagmorgen in der Zahnarztpraxis: „Guten Morgen! Die erste Patientin für heute sitzt schon in der Eins – Neupatientin mit Schmerzen.“ Freudig begrüßt die ZFA mit diesen Worten den Assistenten der Praxis. „Wahrscheinlich eine verschleppte Karies oder eine Endo – und das am frühen Morgen“, denkt sich unser Assistent. Beherzt betritt er das Behandlungszimmer. Da sitzt eine Dame mittleren Alters. Frau Schmidt-Müller, wie er der Karteikarte entnimmt. „Guten Morgen Frau Schmidt-Müller, schön, Sie kennenzulernen. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich habe Schmerzen“, erklärt ihm Frau Schmidt-Müller und erläutert eifrig: „Das geht morgens direkt nach dem Aufwachen los und zieht von den Zähnen durch den ganzen Mund bis hoch in den Kopf – von der linken Schläfe bis nach ganz oben –, und ich weiß auch, woran es liegt.“ „Aha“, erwidert unser Assistent und denkt, „wahrscheinlich wirklich eine Karies mit Pulpabeteiligung“ – er hat zwar noch nicht in den Mund geschaut, aber ist ja naheliegend … „Woran liegt es denn?“ „Na, weil alles locker ist! Mein Oberkiefer ist morgens nicht mit dem Schädel verbunden – der lässt sich nämlich in Stücken bewegen und die Zähne auch. Das tut weh, kann ich Ihnen sagen. Dann rüttele und wackele ich überall, bis wieder alles fest ist und der Schmerz weggeht.“

„Aber Ihre Zähne sind doch ganz fest. Ich schau mir das mal an.“ Mehr traut er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen. Er will die neue Patientin ja nicht gleich vergraulen. Aber stutzig ist er schon. Nach erfolgter 01 ist die Sache so klar, wie zuvor vermutet: Bei Frau Schmidt-Müller wackeln weder der Kiefer, noch Kieferteile, noch die Zähne – nicht einmal minimal erhöhte Mobilität ist zu finden.

„Liebe Frau Schmidt-Müller, bei Ihnen wackelt nichts – alles fest und ohne pathologischen Befund. Nicht mal Karies oder Zeichen einer Parodontitis haben Sie. Ich kann nichts finden.“

„Das können Sie ja auch gar nicht“, entgegnet die Patientin, „ist ja nur morgens. Ich kann dann auch die Zähne in den Kieferstücken hin und her bewegen von rechts nach links. Und bis sich alles wieder zurechtgerückt hat, habe ich Schmerzen. Mein vorheriger Zahnarzt sagt, ich brauche eine Schiene.“

„Sie waren deshalb also schon beim Zahnarzt?“ „Ja, aber er kann die Schiene nicht machen und hat mich weiter verwiesen. Aber eine Schiene würde mir helfen, meint er.“

„Na ganz hervorragend“, denkt sich unser langsam etwas hilfloser Assistent. Was soll er tun? Sagen, dass man so einen „schwierigen Fall“ in dieser Praxis auch nicht behandeln kann? Oder die Sache auf den Punkt bringen und ganz woanders hin überweisen? Eine Schiene machen und warten, was passiert?

Er versucht es indes noch mal mit gutem Zureden: „Frau Schmidt-Müller, bitte glauben Sie mir, Ihre Kiefer und Zähne sind fest. Da wackelt nichts, und Sie brauchen auch keine Schiene.“ „Doch, ich kann ja morgens alles bewegen.“

Nah der Verzweiflung bittet unser Assistent seinen Chef, kurz dazuzukommen. Der Praxischef – mittlerweile in die Thematik, oder besser Problematik eingeweiht – lässt sich die ganze Geschichte noch mal von Frau Schmidt-Müller selbst erzählen.

„Tja“, sagt er schließlich, „eindeutig – Sie müssen zu einem Spezialisten an die Uniklinik. Die haben da ganz andere Möglichkeiten als wir. Lassen Sie sich von der Anmeldung ein Kärtchen mit der entsprechenden Abteilung mitgeben. Ich bin sicher, dass Ihnen da geholfen wird. Alles Gute!“ Frau Schmidt-Müller geht, lässt sich an der Anmeldung das Kärtchen geben, und scheint recht zufrieden.

Solche Patienten gibt es häufiger als man denkt und es einem lieb ist. Sie sind immer speziell und müssen deshalb auch individuell mit viel Einfühlungsvermögen aber auch Pragmatismus behandelt werden. Da er auf solche Situationen während des Studiums in der Regel nicht vorbereitet wird, können dem Assistenten hier nur der Praxischef und dessen Erfahrungsschatz als Vorbild dienen – sei es als positives Beispiel mit guter Menschenkenntnis und psychologischem Geschick, sei es als abschreckendes Beispiel mit wenig nachahmenswerter Vorgehensweise. Unser Assistent weiß jedenfalls immer noch nicht, was er von der ganzen Situation einschließlich der Reaktion seines Chefs halten soll und fragt sich voller Mitgefühl, wie nun der Assistenzzahnarzt an der Uniklinik mit der Situation umgeht.
Dr. A. Watson

This page as PDF

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*